Freitag, 4. Oktober 2013

Kapitel 9: Schlinge

Das Mädchen mit den langen blonden Haaren hatte diesmal keine Zöpfe. Trotzdem erkannte ich es sofort. Sie trug das selbe weiße Kleid. Und vor allem: Es war der selbe Gesichtsausdruck. Die selben dunkelgrünen Augen. Doch diesmal rannte sie nicht vor mir weg. Sie starrte mich nur an. Unverwandt. Etwas Kalt und doch auf eine seltsame Art und Weise belustigt. Mir fiel auf, dass ihre dunkelgrünen Augen eigentlich gar nicht so grün waren. Es war eher eine Mischung zwischen grün und blau. Sie schien mir etwas sagen zu wollen und hatte den Mund leicht geöffnet. Doch sie sagte nichts, sondern lächelte mich nur an. Doch das Lächeln reichte nicht bis zu ihren Augen. Es war eher ein leeres Lächeln. Sie sah aus wie eine traurige Puppe. Wie alt sie wohl war? Sie könnte genauso alt sein wie ich, aber genauso gut etwas älter oder ein zwei Jahre jünger als ich. Ich starrte sie nur an und konnte auf nichts anderes achten. Ich wollte sie etwas fragen, doch ich wusste nicht was.
Plötzlich fiel mir etwas auf. Um ihren Hals war eine lose Schlinge. Ich folgte mit dem Blick dem Lauf des Seiles und sah, dass das Seil bis zum Boden reichte und weit irgendwo hin führte. Ich sah das Ende nicht. Ich sah ihr wieder ins Gesicht. Das Mädchen lachte. Plötzlich holte sie ewtwas aus ihrer kleinen ledernen Tasche die über ihre Schulter hing und ich erst jetzt bemerkte. Es war ein alter Handspiegel. Ein silberner mit hübschen Verzierungen. Sie hielt mir den Spiegel vor das Gesicht. Mein Spiegelbild trug ebenfalls eine lose Schlinge um den Hals. Ich tastete vorsichtig an meinem Hals und spürte das grobe Seil. Es war schwer. Und führte bestimmt auch ins Endlose.

Das Mädchen kicherte. Ich sah sie an. "Es wird nicht mehr so lange dauern", sagte sie. Ich starrte sie verwirrt an. "Lange dauern... was wird nicht mehr so lange dauern?", fragte ich sie. Doch sie drehte sich plötzlich um. Wie das letzte mal entfernte sie sich von mir. Nur leise vernahm ich eine Art bitteres letztes Flüstern von ihr. "Es wird nicht mehr so lange dauern, dann bist du auch so verloren wie ich."


Ich hörte eine Stimme, ganz weit entfernt. Eine vertraute Stimme. Eine beruhigende Stimme.
Ich fühlte, wie jemand mich im Arm hielt. Es war warm. Angenehm.
Und ein Mädchen, das nach meinem Namen rief. Nicht nur ein Mädchen. Es war auch die beruhigende männliche Stimme.
"Anzu! Anzu!!"
"Beruhige dich Anzu!"
Bestimmt schrien die Stimmen, aber sie kamen mir so vor, als würden sie flüstern. Beruhigend auf mich flüstern. So als wäre ich in einem See und sie wären an der Oberfläche.

Ich wurde ruhig. Plötzlich registrierte ich auch andere Sachen. Dass ich langsam gleichmäßiger atmete, dass mir eine Papiertüte an Nase und Mund gehalten wurde. Die sich langsam auf und ab bewegte. Ich fand es schon immer irgendwie lustig, wie sich die Papiertüte bewegte, wenn ich da rein atmete. Jedenfalls als ich gelernt hatte sie zu benutzen. Danach hatte ich es weniger lustig gefunden, wenn ich sie brauchte.
Ich merkte, dass Tom mich fest in seinen Armen hatte. Und dass Sina neben ihm saß und meine Hand hielt. Sie wimmerte ein bisschen. Ich öffnete langsam die Augen. Ich blinzelte, bevor ich wirklich wahrnehmen konnte, wer und was vor mir war.
Patrice und Niels standen wie erstarrt neben Sina und Annika. Ich war im Eingangsbereich des Ferienhauses.
Ich bewegte mich etwas. Ich fühlte mich etwas steif. Ob sie schon einen Notarzt gerufen hatten oder ähnliches?
Ich hoffte es nicht, denn es war zwar eine Weile her, seit ich das letzte Mal wirklich zusammengebrochen war, aber ich konnte damit umgehen. Ich fragte mich, was passiert wäre, wenn sie mich nicht so schnell bemerkt hätten. Ich schauderte leicht.

Ich atmete tief und ruhig durch. Dann bewegte ich meine Arme etwas hoch, um zu signalisieren, dass alles wieder gut war. Tom nahm vorsichtig die Papiertüte von meinem Gesicht und umarmte mich fest. "Gott sei dank Anzu! Ich habe mir solche Sorgen gemacht!" Ich drückte mich an ihn. Diese guttuende Wärme. Ich schloss für einen Augenblick die Augen und ließ mich schließlich von ihm ab. Sinas Augen waren etwas feucht, aber sie würde niemals behaupten, dass sie kurz davor war zu weinen. Jemand umarmte mich von hinten. Patrice.
"Es tut mir so leid", flüsterte sie und ich merkte, dass ihre Stimme zitterte. Ich nahm ihre Hand. "Schon gut, Pat", brachte ich hervor. Sie löste sich von mir und ich bemerkte, dass sie ziemlich zitterte und Tränen in den Augen hatte. Niels nahm sie in den Arm.
Die Stimmung wirkte einerseits so erleichtert und doch so angespannt. Ich lächelte leicht. "Leute... beruhigt euch wieder, mir geht's okay." Alle nickten und wir setzten uns alle wieder ins Wohnzimmer hin.
"Hat einer von euch den Notarzt gerufen?", fragte ich in die Runde des Schweigens. Annika schüttelte den Kopf. "Noch nicht, aber ich war kurz davor."
Ich nickte. "Okay. Braucht ihr nicht. Mir geht's gut."
Schweigen. Tom hielt mich dicht bei sich, als hätte er Angst mich wieder los zu lassen. Sina schien noch einigermaßen gelassen zu sein. "Ich... bei der Klassenreise hattest du ja auch etwas ähnliches", murmelte sie. Trotzdem sah man ihr an, dass sie sich Sorgen gemacht hatte.

Tränen stiegen in mir auf. So viele Menschen die sich um mich kümmerten. Ich lächelte. Ich war glücklich. Ich kuschelte mich an Tom. Er küsste mich sanft auf die Stirn. Im Hintergrund lief irgendein Lied aus der Stereo-Anlage.
Normalität kehrte wieder. Ich würde das  mit meinem Anfall bei nächster Gelegenheit meiner Psychiaterin erzählen.
Aber jetzt wollte ich erst einmal wieder normal sein.
Niels und Patrice setzten sich auf das Sofa und tranken Arm in Arm ein Bier zusammen. Sina und Annika hockten sich wieder auf dem Boden, während sie mich dennoch nicht aus den Augen verloren. Als ich sie anlächelte lächelten sie verlegen zurück und wandten sich dem Fernseher zu, um zu diskutieren, ob sie noch etwas zocken wollten
Und für Tom schien alles außer uns weit weg zu sein. "Ich hatte wirklich Angst dich zu verlieren", flüsterte er sanft. Ich küsste ihn. Er erwiderte meinen Kuss. "Ich will dich nicht verlieren", sagte er. Ich sah ihm in seine schönen braunen Augen. Ich sah es ihm an. Diese Angst, die er zuvor noch hatte. Diese Sorge um mich. Aber auch diese Liebe. Ich war ihm wirklich wichtig. Ich wurde rot und musste unwillkürlich lächeln. Er war mir doch auch wichtig. Der wichtigste Mensch in meinem Leben. "Wirst du nicht", versprach ich leise. Ich legte meinen Kopf an seine Brust und schloss die Augen. Er streichelte zärtlich meinen Rücken. Ich  gähnte leise und bemerkte wie müde ich eigentlich war. Nun... es war wahrscheinlich wirklich mitten in der Nacht und ich hatte die Nacht davor kaum geschlafen...
Und ehe ich mich versah war ich tatsächlich eingeschlafen.

Freitag, 27. September 2013

Kapitel 8: Entwichen

Die Stimmung war klasse. Wir gingen Mittags alle zusammen ans Meer und veranstalteten eine Schneeballschlacht und bauten einen riesigen Schneemann, bei dem nur noch die Jungs und Annika an den Kopf rankamen.
Wir aßen was es halt so zum essen gab, liefen bisschen durch's Dorf rum und zogen einige Blicke auf uns, als Tom mit Sina huckgepack durch die Straßen rannte.

Für den Abend hatten wir eine Flasche Bacardi, Cola und etwas Bier vorgesehen. Außerdem wollten wir alle Singstar spielen, was bei einigen Stimmen wirklich nur mit Alkohol zu ertragen war. Sina und Annika sangen beide einfach nur total schief, was sie nochmal ähnlicher machte als sonst schon.
Annika war ja nur zwei Jahre älter als Sina und etwa einen Kopf größer als ihre kleine Schwester, allerdings sahen sie sich schon vom Gesicht her total ähnlich. Allerdings hatte Annika viel längere Haare und Sina war etaws zierlicher.
"Aaaaalll I waneddd waasss yuuuuuuuu", gröhlten Annika und Sina höchst asynchron und Tom konnte sich vor Lachen kaum halten. Niels und Patrice saßen verdächtig nah aneinander und ich grinste sie etwas angetrunken an. Mann, so eine Bacardi Cola ist schon ziemlich stark!
Tom packte meine Hand und als ich ihn ansah küsste er mich bevor ich irgendwie reagieren konnte.
"Kuss geklaut!", lachte er und verwuselte mir meine ausnahmsweise perfekt sitzende Frisur. "Hey!", protestierte ich und küsste ihn, während er noch lachte. "So! Jetzt sind wir quitt!", sagte ich und lehnte mich an ihn an. Er nahm mich in den Arm.
Es wurde später. Ich bekam Lust zu singen und schnappte mir ein Mikro. Ich sang irgendein Lied, das ich wirklich noch nie gehört hatte und sang es super schön falsch und erfand eine andere Melodie dazu. Annika und Sina krümmten sich vor Lachen.
"Heeeeyyy.... wer hat Lust auf Wahrheit oder Pflicht?"
Meine Güte, wie betrunken war bitte Sina? Und ihre Schwester war auch nicht gerade besser.
Ich nahm Sinas Hand, und wollte versuchen es ihr auszureden, aber Patrice kam mir in die Quere. "Au jaaaaaa!! Wahrheit oder Pfliiiiicht!"
Eindeutig auch betrunken. Niels rülpste bestätigend. Ich grinste etwas gequält und seufzte. Na gut.
Tom nahm eine leere Bierflasche und legte sie unten auf den Boden. "Lasst uns Flaschendrehen! Mit Wahrheit oder Pflicht!"
Er fing an. Die Flasche zeigte auf Annika. "Anni!!!", rief Tom, "Wahrheit oder Pflicht?" Anni gluckste vergnügt. "Ich nehme.... Waaahrheit!"
Tom überlegte kurz. "Okay, hast du momentan was am Laufen?" Annika errötete leicht und antwortete schließlich: "Naja, schon, aber ist nichts ernstes." Dann nahm sie die Flasche und drehte sie. Sie zeigte auf Patrice. "Wahrheit oder Pfliiiicht!", zwitscherte Anni. Patrice zögerte kurz und entschied sich dann für Pflicht. Annikas Grinsen wurde breit. Sie lachte etwas unheilvoll.
"Küsse Niels auf den Muuund!", verkündigte sie singend. Patrice wurde rot, aber das konnte auch vom Alkohol kommen. Niels grinste sie erwartungsvoll an. Schließlich gab Patrice ihm einen schüchternen Kuss auf den Mund. Sina machte "Uiuiui"-Geräusche. Patrice kniete sich auf den Boden und drehte die Flasche. Die Flasche zeigte auf mich. Mist!
"Wahrheit oder Pflicht?", fragte sie mich. Äh... ähm... ääääääähhhhm...
"Pflicht", antwortete ich. Patrice sah mich an, sah Tom an und schließlich begutachtete sie zuerst den ganzen Raum bevor sie dann antwortete. "Dann... geh raus und nimm einen Stock mit", beschloss sie. Was war das für eine Aufgabe?
Aber froh, rausgehen zu dürfen stand ich auf und holte meine Jacke. "Wir warten hier!", trällerte Sina. Offensichtlich hatte sie keine Lust in die Kälte zu gehen. Ich nahm mir noch eine Taschenlampe mit und stapfte nach draußen.

Es war bestimmt mindestens -10°C draußen, aber es störte mich nicht besonders. Ich stellte die Taschenlampe an. Ich seufzte. Mein Hauch war sehr gut sichtbar. Irgendwie schön erfrischend, hier draußen. Man bekam den Kopf klar. Ich wurde irgendwie nüchterner. Gut, so viel hatte ich nun auch wieder nicht getrunken. Ohne dass ich es merkte war ich schon ein ganzes Stück gegangen. Vor mir war der Strand. "Puuhhh", machte ich und beugte mich um einen ziemlich großen Haufen Schnee in meine Hand zu nehmen. Der Schnee schmolz in meiner Hand. Der Schnee schmolz schneller als sonst, aber ich dachte mir nichts dabei. Und doch wurde ich aufmerksam, als ich merke, dass kein einzigerTropfen des geschmolzenen Schnees auf durch meine Finger sickerten. Es war, als hielte ich einen großen Wassertropfen in der Hand. Es sah aus wie bei einer Oberflächenspannung, was aber auch wieder nicht sein konnte. Das Wasser war flüssig. So viel stand fest. Es konnte nicht sein.
Ich ließ fast die Taschenlampe fallen. Ich starrte auf das Wasser und stellte mir vor, wie es wäre, wenn ich die Hand umdrehen würde. Der Tropfen kroch bis zu meinen Fingerspitzen entlang. Blieb ein einziger großer Tropfen. Es war, als würden die gängigen Naturgesetze nicht gelten. An meiner Hand hing Wasser. Es war unbeschreiblich. Mein Herz pochte laut. Ich wusste nicht, was ich darüber denken sollte. Wie das möglich war. Ob ich mir das alles nur einbildete. Ob ich zu viel getrunken hatte.
Und dann... plötzlich wurde der Tropfen zu Eis. Ich ließ ihn fallen. Der Eistropfen fiel durch den weichen Schnee. Ich fühlte mich auf einmal so unwohl. Was ist das nur für ein Gefühl? Es hatte sich sehr seltsam angefühlt, als ich das Wasser berührt hatte... Als wäre es etwas Lebendiges, etwas, das einfach zu mir gehörte. Ein Teil meines Körpers... Das Gefühl, das Wasser einfach so in meiner Hand zu halten wirkte so natürlich für meinen Körper. Nur konnte ich es meinem Kopf nicht erklären. Ich wusste einfach nicht, was es war.
Ich merkte, wie ich nach Luft schnappte. Doch es war noch nicht so weit.
Ich starrte auf den Boden und plötzlich fiel mir etwas auf.

Fußstapfen vor mir, nur etwa einen Meter von mir entfernt. Der Schnee war vor mir sonst unberührt. Nur eine Fußspur. Und die führte nur bis dorthin. Zwei Stiefelabdrücke, die einen stehenden Menschen vor mir vermuten ließen. Doch genau da endete die Spur. Es war, als hätte sich der Mensch, dessen Spur es war plötzlich in Luft aufgelöst. Als hätte der Mensch nur dort gestanden. Etwas schweres und sehr kaltes lag in der Luft. Ich fühlte mich beobachtet. Wie das letzte Mal. Ausgeliefert. Ich stolperte zurück. Mein Herz raste. Ich hatte längst vergessen, was ich draußen überhaupt machte. Die Luft... sie entwich mir.

Sie entwich mir.

Das nächste, an das ich mich erinnern konnte war, dass ich vor dem Ferienhaus zusammenbrach, kurz bevor ich klingeln konnte, dass mir jemand aufmachte. Ich zitterte und meine Hände suchten nach einer Papiertüte in meiner Jackentasche, doch ich hatte momentan keine dabei. Warum hatte ich keine dabei? Achja, ich hatte sie im Haus kurz gebraucht... Mir wurde schwarz vor Augen.

Donnerstag, 12. September 2013

Kapitel 7: Freundin

Kalter Meerwind begrüßte mich, als ich den zugeschneiten Strand entlangstapfte. Meine Haare wehten chaotisch im Wind. Ich schnaubte einen nebligen Atem. Das Meer war nicht komplett zugefroren, aber viele  Eisschollen trieben auf dem Wasser.
Es war unser verlängertes Wochenende, das wir wegen einer Lehrerfortbildung hatten. Sina hatte vorgeschlagen ans Meer zu fahren, da Niels Familie ein Ferienhaus dort besaß. So sind wir mitsamt Sinas älteren Schwester Anni, die Auto und Alkohol bereit gestellt hatte hergefahren. Es war nur eine oder fast zwei Stunden Fahrt gewesen, aber es wirkte schon ganz anders. Ich emfand es als eine angenehme Abwechslung obwohl es schon bisschen seltsam war, mitten im Winter ans Meer zu fahren.
Das Meer... Ich hatte fast vergessen, welche magische Wirkung das Meer auf mich hatte.
Oder eher gesagt... alle Gewässer hatten irendwie eine magische Anziehungskraft auf mich.
Obwohl mir das Meer manchmal auch Angst machte.
Es war schwer zu beschreiben. Als ich klein war war ich ene gute Schwimmerin. Jedenfalls wurde mir das gesagt. So sehr erinnerte ich mich eigentlich nicht daran. Aber... irgendwie bin ich seit Jahren nicht mehr geschwommen. Ich hatte es sogar beinahe vergessen wie man schwimmt. Jedenfalls kam es mir etwas seltsam vor...
Der Schnee knirschte unter meinen Schuhen. Langsam würde sich die Sonne über dem Meer erheben. Es war erst sieben Uhr. Ich wusste ja selbst nicht, warum ich so früh aufgewacht war. Es war verdammt noch mal freitags. Donnerstag nachmittags waren wir losgefahren und angekommen. Am Abend hatten wir nen sehr entspannten Spieleabend, bei der wir Guitar Hero auf Niel's Wii gespielt hatten und nebenbei Lachsfillet (Sina unsere Vegetarierin hatte sich irgendetwas eigenes gemacht) gegessen hatten. Es war sehr fröhlich.
Es war diese Art Ablenkung, die ich dringend mal gebraucht hatte, um vor diesen irrationalen Ängsten loszukommen...

Und trotzdem. Irgendwie konnte ich nicht lange schlafen. Wahrscheinlich hatte ich den selben Traum wie immer, aber diesmal konnte ich mich nicht gut dran erinnern. Ich war allerdings mit einer Papiertüte am Mund zu Bewusstsein gekommen, also jah...
Am Horizont war der Himmel wunderschön rot. Leicht orange, aber vor allem rot. Ich hatte fast vergessen, wie sehr ich Sonnenaufgänge mochte. Ich atmete tief durch. Frei. So konnte man mein Gefühl beschreiben das ich gerade hatte.

Frei.

Plötzlich wurde ich auf eine Figur aufmerksam, die nicht weit von mir auf dem Boden saß. Leicht bekleidet, nur mit einer Jogginghose und einem weißem Top. Nur die Schuhe waren etwas wärmer. War ihr nicht kalt? Als ich näher kam erkannte ich sie.
Patrice sah gedankenverloren in die Ferne. Ihre hellbraunen Haare wehten sanft hin und her. Ich hockte mich neben sie. Sie schien mich ersteinmal nicht zu bemerken bis ich sie leicht antippte. Sie zuckte nicht zusammen, aber drehte den Kopf zu mir um. Ihre zweifarbigen Augen sahen mich unergründlich an.
"Pat... ist dir nicht kalt?"
Patrice antwortete nicht und richtete ihren Blick wieder auf die Ferne. Ich setzte mich ordentlich neben ihr Hin und zog meine Jacke aus. Ich hatte schließlich immerhin noch einen Pulli darunter an. Ich legte meine Jacke um sie.
"Du unterkühlst sonst noch", sagte ich.
Patrice öffnete den Mund, als wenn sie etwas sagen wollte, schloss ihn dann wieder. Dann sah sie mich noch einmal an. "Sag mal Anzu... hast du schon mal daran gedacht wie es wäre zu sterben?"
Diese Frage traf mich unvorbereitet.
"Wa... was? Ich..." Ich stotterte. Dann nahm ich tief Luft. "Warum fragst du mich das?"
Patrice sah lächelnd wieder zum Horizont. "Ich habe mal daran gedacht", sagte sie und streckte ihren linken Arm aus. Mir fiel auf, dass es eines der wenigen Male war, die sie keine Armbänder trug. Eine Narbe zog sich quer über das Handgelenk. Ich schwieg. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte.
"Es ist schon einige Jahre her", erklärte sie weiter, "ich war ziemlich dumm, aber was soll's... ich habe keinen Grund mehr einfach so... zu sterben." Ich sah sie nachdenklich an. "Weißt du Anzu", sagte sie, "ich habe euch echt alle sehr gern. Auch wenn ich's manchmal nicht so gut ausdrücken kann."
Ich nickte und lächelte. "Wir haben dich auch alle sehr gern Pat", sagte ich. Eine Weile schwiegen wir. Die Sonne kam langsam aus dem Horizont empor.
"Die Sonne geht auf", bemerkte Patrice. Sie lächelte. "Ja", lächelte ich zurück. Ob sie wohl sich gerne öfters den Sonnenaufgang ansah? Auch wenn wir befreundet waren, wurde mir zum ersten Mal bewusst, wie wenig sie eigentlich über sich erzählte. Nur manchmal, wie jetzt, bekam man einen Einblick von ihr. Und trotzdem. Nichts würde verändern, dass sie ein toller Mensch war, der in unserer Gruppe unersetzbar war.

"Unsere Gruppe".
Es war, als hätte ich vergessen, wie wohl ich mich eigentlich bei ihnen fühlte. Es stimmte mich traurig und glücklich zugleich. Ein kalter Wind ließ mich etwas frösteln.
"Achja Anzu..."
Ich sah hinüber zu Pat. Sie sah mich etwas verlegen an und wurde etwas rot. "Meinst du... ich könnte eine Chance bei Niels haben?"
Ich starrte sie an und musste unweigerlich lachen. "He... hey!", protestierte Patrice, "warum lachst du?" Ich hörte langsam auf zu lachen und grinste breit. "Sorry", grinste ich, "aber du musst zugeben, du redest recht selten über Jungs, die dir gefallen. Sogar seltener als ich und das soll was heißen!"
Patrice lächelte unsicher. Ich hakte mich bei ihr ein. "Ganz bestimmt hast du eine Chance, so wie er dich immer ansieht!", antwortete ich ihr schließlich, "ich dachte sogar, dass ihr bereits zusammen seid, so wie ihr manchmal zusammen abhängt..."
Patrice grinste. "Er ist... cool", sagte sie schließlich. Ich umarmte sie ohne Vorwarnung. Mit leichter Verzögerung knuddelte sie mich zurück. Normalerweise war es Sina, die einfach so Leute umarmte, aber mir war danach.
"Wollen wir zurückgehen?", fragte ich schließlich." Pat nickte. "Okay."

Freitag, 3. Mai 2013

Kapitel 6: Paranoid

Nach meiner wöchentlichen nervigen Therapiesitzung beschloss ich  in dem einzigen Supermarkt der Innenstadt schnell etwas Brot einzukaufen und vielleicht noch herumzuschlendern. Es war immer noch so schnell dunkel. Nun... es war immerhin noch Januar...
Ich besorgte schnell das Brot und ging langsam und gedankenverloren durch die Straßen.
Vom Marktplatz aus waren es viele bogenförmige Straßen, die zu einer Hauptkreuzung führten. Ich kam auch an meiner Schule vorbei, die teilweise noch beleuchtet war. Leise hörte ich den Klang unserer Band-AG, die gerade probte.
Ich überlegte mir, ob ich auf Niels warten sollte, da er in der AG Gitarre spielte. Manchmal wartete er auf mich und ich auf ihn. Doch heute entschied ich mich dagegen. Ich sah ihn oft genug.
Also ging ich einfach weiter. Ich seufzte. Warum musste ich gerade heute meinen iPod zu Hause vergessen? Es war so langweilig durch die Kälte zu laufen, ohne Musik im Ohr zu haben.
Ein kalter Wind ließ mich frösteln. Der Schnee knirschte unter meinen Schuhen. Manche Wege waren leider nicht gut geräumt. Ich kickte etwas von dem Schnee nach vorne. Es blieb an meiner Stiefelspitze kleben.
Ich bließ eine Nebelwolke in die Luft.
Ich hasste die Therapien. Ich fühlte mich dadurch nicht unbedingt besser oder gar verstanden. Nach jeder Therapiesitzung fühlte ich mich nur etwas seltsamer. Jedes Mal fragte ich mich immer mehr, ob ich nicht ein etwas anderes Problem hatte. Auf den Ursprung meiner Träume und meines teilweise chronischem Gefühls zu ertrinken wollte man einfach nicht kommen. Außerdem gaben mir diese Termine das Gefühl ein kompletter Freak zu sein. Ne Irre. Oder ein Suizidopfer.
Es war ja nicht so, dass ich mir wünschte zu ertrinken.
Es war nur dieses Gefühl, das ich ertrank. Jeden Tag ein bisschen mehr. Selbst wenn ich alles tat das aufzuhalten. Ich hatte kein übles Leben. Ich hatte gute Freunde, ich hatte Tom. Ich war glücklich.
Doch irgendetwas in mir drin starb weiter und es hatte nicht den Anschein als könnte ich irgendetwas dagegen unternehmen.
Was für ein Gefühl war es zu ertrinken? Ein Gefühl der Hilflosigkeit, Starre, Apathie? So etwas in der Art ist es vielleicht. Und gleichzeitig diese Panik. Ausbrechen zu wollen, irgendwie... irgendwie.
Manchmal wollte ich einfach nur schreien, hören, dass ich noch lebte. Irgendetwas tun, dass ich wusste, ich war nicht tot.
Vielleicht war ich ein Emo. Manchmal machte es mir viel zu viel Spaß traurig zu sein oder melancholisch durch die Gegend zu schauen.
Zu leicht beschwerte ich mich über Sachen, ohne dass sie mich wirklich störten. Ich meine... ich habe fast immer sturmfrei. Normale siebzehnjährigen würden doch irgendwie eine Party schmeißen, oder? Außerdem habe ich einen Freund, der auch gern mal bei mir übernachten könnte. Nicht dass er es nicht manchmal tat. Aber egal.
Ich wollte manchmal irgendetwas machen. Mein Alltag ertrank im Grau, die Konversationen mit anderen Leuten wirkte mir so oberflächig und am Ende könnte mich ohnehin niemand verstehen.
Vielleicht sollte ich wirklich Emo werden. Die schwarzen Haare und den Pony hatte ich ja schon mal.

Schritte. Ein Knistern.

Ich schnappte nach Luft. Mir war irgendwie schwindelig. Doch es war nicht mein Kreislauf oder so. Irgendetwas stimmte nicht. Ich spürte es. Irgendetwas sagte es mir. Mein Herz pochte so laut, dass ich es hören konnte. Ich ging langsam weiter. Ich hörte das Knirschen meiner Schritte. 1, 2, 3,4... ich zählte meine Schritte. Passte auf jeden Schritt auf. Irgendetwas stimmte nicht. Ich wusste es. Ich versuchte regelmäßig zu atmen und ging etwas weiter nach links. Ich zwang mich, langsam und bedächtig zu gehen und nicht zu rennen.
Knirsch.

Ein Knirschen zu viel. Ich drehte mich um. Niemand war da. Warum hatte ich nur das Gefühl, dass mich jemand verfolgte? Ich atmete tief durch. Ich war kurz davor gewesen... Ich sah auf dem Boden. Ich sah nur die Fußspuren von mir und von anderen Menschen die wohl diesen Weg an dem Tag gegangen waren. Da war nichts ungewöhnliches. Es war wohl eine Einbildung. Warum passierte mir so etwas immer öfter? Ich war eindeutig ein paranoides... Etwas. Das konnte nicht sein. Was zum Teufel stimmt nicht mit mir?

Ich sah noch einmal um mich. Niemand weit und breit. Die Straßenlaternen flackerten normal ihr Licht auf die kleine Straße... Das wird es gewesen sein. Ein flackender Schatten, den ich irgendwo wahrgenommen hatte...
Trotzdem fühlte ich mich nicht sehr wohl. Ich ging etwas schneller und passte auf, dass ich nicht im Schnee und Eis ausrutschte.



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Samstag, 23. März 2013

Kapitel 5: Vergangenheit

Es waren nun einige Wochen vergangen, seit ich den komischen Traum von dem Mädchen mit den langen blonden Zöpfen hatte. In der Zeit hatte ich nichts weiter geträumt außer die alten Träume über's Ertrinken. Langsam schien es fast, als würde ich mich daran gewöhnen. Wobei die Vorstellung grausam war, sich daran zu gewöhnen, langsam zu sterben.
Wann hatten diese Träume überhaupt angefangen? Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern. Doch ich hatte sie schon sehr lange. Als ich klein war, war ich nachts weinend aufgewacht, ohne mich an den Traum zu erinnern, der mich verfolgte. Seit ich ungefähr zwölf war schien es mir, als würde ich jede Nacht mit diesem Traum sterben. Ich erinnerte mich nach dem Aufwachen an immer mehr Details meines immer wieder kehrenden Albtraums und selten träumte ich etwas anderes. Es gab Zeiten, an denen ich Angst hatte zu schlafen. Mit vierzehn oder so hatten meine Eltern zur regelmäßigen Therapie geschickt. Doch wirkliche Erfolge hatte ich nie erzielt. Meine Therapeutin Dr Starson hoffte irgendein wahres Ereignis aus meiner Kindheit herauszufinden. Aber ich war nie ertrunken oder hatte Ereignisse erlebt, die dem ähnlich waren. Doch... es war so ein Gefühl, als würde mir mein Instinkt irgendetwas damit sagen.
Es war schwer zu erklären, welches Gefühl es war. Ich fühlte mich so oder so schon abnormal genug. Selbst wenn ich Freunde hatte, die alle auch nicht gerade alle Tassen im Schrank haben.
Sina zum Beispiel hatte einen ziemlichen Wahn zum Fitness und joggte täglich mehrere Kilometer.
Patrice hatte erst seit etwa zwei Jahren aufgehört sich zu ritzen, was mich sehr überrascht hatte, als sie das erzählte.
Niels... naja, war eher so ein komischer eigenbrötlerischer Typ, der furchtbar lieb zu allen war und beinahe ein Nerd wie es im Buche stand.
Und Tom... er war vielleicht der einzige Perfekte bei uns. Er hatte es wahrscheinlich nicht leicht, da er nie seinen Vater kennengelernt hatte und so nur mit seiner Mutter aufgewachsen war. Aber das hat ihn zu jemand gemacht, der fürsorglich, verantwortungsbewusst und treu war. Ich kannte ihn schon seit Langem, noch als er noch nicht in unserer zugegeben schicken Gegend wohnte. Damals wohnte er etwas außerhalb und musste 20 Minuten mit dem Fahrrad fahren oder 13 Minuten mit dem Bus zur Schule fahren. Das war jetzt nicht so viel, aber wir wohnten schließlich auch in einer kleinen Stadt.
Seine Mutter hatte ihn in der Grundschulzeit fast immer hingebracht und abgeholt, ihre Arbeitsstelle war ganz in der Nähe.
Wir gingen also in dieselbe Grundschulklasse. Anfangs hatten wir uns nur gegenseitig geärgert. Doch das änderte sich, als wir nebeneinander gesetzt wurden. In der Pause holten wir unsere Brotdosen hervor und mussten feststellen, dass auf unseren Brotdosen Charaktere derselben unbekannten Kinderserie drauf waren, die wir sehr mochten. Ansonsten hatte nämlich keiner die Serie gekannt. Dann hatten wir uns darüber unterhalten und mehr Gemeinsamkeiten gefunden. Wir hatten angefangen öfter zusammen zu spielen und ehe wir uns versahen waren wir auch beste Freunde.
Als wir in die dritte Klasse kamen, bekam seine Mutter eine höhere Stellung, weshalb sie sich schließlich die Wohnung in unserer Gegend leisten konnten. Wir waren überglücklich, dass wir fast Nachbarn waren. Als wir ins Gymnasium kamen, lief's zwischen uns nicht mehr so gut. Wir waren zwar immer noch Freunde aber besonders zwischen der fünften und achten Klasse hatten wir uns ziemlich oft gestritten. Immer hatten wir uns wieder versöhnt, aber es war eine kritische Zeit. In der Zeit freundete er sich mit Niels an und ich war sehr eifersüchtig auf ihn. Gleichzeitig jedoch war ich in so einer Art Mädchenclique, von denen Tom viele überhaupt nicht mochte. Sina war auch dabei und war damals wirklich anders: sie war eine blonde Barbie, die auch noch Tennis spielte. Irgendwie der Inbegriff eines Snobs. Und das mit damals noch elf/zwölf Jahren. Trotzdem hatten wir uns total gut verstanden und irgendwann mit dreizehn/vierzehn sah sie auch ein, dass ihr dieser Snob-Kram nicht stand.
In der achten Klasse flogen Sina und ich aus der Clique. Und das, weil Sina anfing sich für Tierschutz zu interessieren und allen wohl mit ihrem Weltverbesserer-Tick auf den Keks ging. Und ich flog von der Clique, weil ich Sinas beste Freundin war.
Wir waren vierzehn, fast in der neunten Klasse. Spätestens jetzt kam jeder in die Pubertät oder erreichte eine kritische Phase. Sina hatte sich total in Tom verschossen und bettelte jedes Mal, ich sollte sie mit ihm verkuppeln. Tom und ich allerdings waren mehr oder weniger im Streit, da ich mich nicht mit Niels verstand und Tom Sina immer noch für eine verwöhnte reiche Prinzessin hielt.
Dies änderte sich dann aber irgendwann bei einer Klassenfahrt in der neunten Klasse. Keine Ahnung mehr wie genau, aber plötzlich waren wir alle gute Freunde. Sinas Verknalltheit in Tom hatte sich gelegt und sie war für ihn auch keine unausstehliche reiche Göre mehr.
Und nun waren wir in der elften Klasse. Das hieß, wir waren in der Oberstufe und unser Abitur lag nur noch ein Jahr in der Zukunft. Wir hatten unsere Leistungskurse gewählt und eine neue Freundin gewonnen. Patrice.
Als sie zum ersten Mal die Tür in unserem Physikraum betrat dachte ich, sie hätte sich verlaufen. Es war Sommer, wir trafen uns mit dem Physik-Leistungskurs. Augenscheinlich waren alle irgendwie Nerds oder Streber. Wir waren nur vier Mädchen. Da kam ein fünftes Mädchen in den Raum, im kurzem Jeansmini, Chucks, einem schwarzem Top und Jeansjacke, die sie nicht auszog. Dazu trug sie eine lange silberne Kette mit einem Vogelkäfig daran. Ihre langen brünetten Locken wirkten beinahe divahaft und hatte dunklen Lidschatten aufgetragen. Dazu noch diese große braune Handtasche... Sie wirkte nicht wie eine typische Physikleuchte und zu allem Überfluss setzte sie sich auch noch neben mich. Alle hatten sie nur fasziniert angestarrt, bis sie allgemein in die Runde sagte: "Hi, ich bin Patrice. Wenn ihr noch nie ein Mädchen gesehen habt, macht doch ein scheiß Foto von mir!" Einerseits war das schlagfertig, aber auch irgendwie arrogant und genauso verhielt sie sich meistens, wenn sie nicht gerade dabei war zurückhaltend und still zu wirken.
Niels, Tom, Sina und ich mochten sie am Anfang deswegen auch nicht, aber irgendwie war sie auch immer in unserer Nähe, ohne irgendetwas zu sagen. Sie gehörte keiner Clique an und wirkte nicht so, als würde sie sich überhaupt eingliedern wollen. Doch gute Noten schrieb sie. Sie hielt es zwar geheim, doch als ihre Sitznachbarin sah ich, dass sie in Physik laufend 15 Punkte in Klausuren bekam.
Und da sie uns persönlich nie beleidigt hatte, sondern irgendwie nur bisschen gestalkt und uns manchmal sogar bei Schulaufgaben geholfen hatte, gehörte sie irgendwann auch zu uns. Sie redete immer noch ungern, aber wir hatten auch ihre guten Seiten an ihr gefunden. Sie war zuverlässig, wenn es darum ging Geheimnisse für sich zu behalten, war eigentlich ziemlich großzügig und nicht nachtragend. Außerdem besaß sie irgendwie einen schön trockenen Humor und eine makabere Art, für die wir sie besonders ins Herz geschlossen hatten.
Vor einiger Zeit hatte sie uns erzählt, dass sie sich mal geritzt hatte. Doch warum hatte sie uns nicht erzählt. Irgendwie war sie rätselhaft,  irgendwie aber auch ziemlich cool.

Bei der Erinnerung an die erste Begegnung mit Patrice musste ich grinsen. Ja, wir waren schon ein lustiger Haufen, der wegen den kranken Eigenarten von jedem total gut zusammenpassen. Fast wie eine Familie... Ich seufzte. Es war Donnerstag, was hieß, dass ich mal wieder zur Therapeutin musste. Nach einem langen Schultag war es fast eine Zumutung, doch andere Termine würden entweder Dr. Starson oder mir nicht passen. Und so machte ich mich direkt nach der Schule, um 16 Uhr auf den Weg zu einer weiteren Therapiesitzung, die mal wieder nichts bringen würde...

Donnerstag, 21. März 2013

Kapitel 4: Traum

Ich holte meinen Schlüssel hervor und schloss die Tür auf. Tom hielt mich immer noch fest. "Mir geht's gut", sagte ich und trat meine Schuhe an der Fußmatte ab. "Wir messen erstmal den Fieber", sagte er ruhig. Etwas schnaubend trat ich ein und streifte meine Stiefel ab. Meine Haare waren vom Schnee nass. Tom half mir, meine Jacke auszuziehen und ließ mich endlich los. Ich strich mir meinen Pony nach hinten. Tom zog seine Schuhe und den Mantel aus. Ich ging die Treppe hoch und er folgte mir. Im Badezimmer waren Handtücher und ein Fieberthermometer. Ich klemmte das Thermometer unter meinem Pulli in meine Achselhöhle und trocknete mir ein bisschen meine Haare. Als das Thermometer piepte zog ich es hervor. 37, 7 Grad. Tom hielt mir seine Hand an die Stirn. "Leichtes Fieber", meinte er, "ist dir schwindelig oder hast du Kopfschmerzen oder so?" "Mir geht's gut", wiederholte ich. "Du solltest dich ausruhen", sagte er eindringlich, "viel trinken,viel schlafen... denke ja auch nicht dass es so schlimm ist, aber..." "Ist gut", sagte ich trotzig. Er grinste mich an und küsste mich auf den Mund. Ich erwiderte den Kuss. Doch diesmal schien mir seine sonst warmen Lippen eisig zu sein. Ich fröstelte.
"Los husch ins Bett!", sagte Tom lächelnd. Er drängte mich aus dem Badezimmer und marschierte mit mir gradwegs in mein Zimmer. Ich legte mich hin und er setzte sich auf die Bettkante. Er deckte mich zu. "Du solltest schlafen", sagte er, "nachher treffen wir uns ja bei Niels. Ich sag dann bescheid, dass du krank bist, okay?" Ich antwortete nichts und kuschelte mich ein. Ich sollte mir eigentlich besser etwas bequemeres anziehen, doch so, wie ich gerade lag, lag ich so bequem dass ich zu faul war aufzustehen. "Ich geh dann mal", sagte er und ich sah es ihm an, dass er eigentlich lieber bleiben würde. Aber er wusste, dass ich das nicht zulassen würde. Er stand auf und strich mir übers Gesicht. "Ich liebe dich", sagte er, "kurier dich aus." "Ich liebe dich auch", nuschelte ich noch, bevor er aus der Tür ging.
Ich seufzte und rollte mich ein. Vielleicht hatte er recht und ich sollte schlafen. Ich war plötzlich so müde... Ich gähnte. Es war so schön warm in der Decke. Langsam fielen mir meine Augenlider zu.

Ich erwartete fast, wieder zu ertrinken. Ich hatte selten andere Träume in der letzten Zeit. Ich erwartete das viele Wasser. Die Ketten an meinen Händen oder Füßen. Die Algen und Fische im Wasser. Das Licht das von oben ein bisschen schimmert. Doch nichts davon war.
Ich stand barfuß auf einer Wiese. Die Wiese war nass und ich spürte sogar diese Nässe. Diese Feuchtigkeit in der Luft. Die Sonne schimmerte auf die Wiese. Die Bäume auf der Wiese hatten bereits Blätter, der Himmel war leicht bewölkt. Ich lief umher und es war alles still und friedlich. Und doch war es seltsam einsam. Ich hörte einige Vögel zwitschern. Ich entschied mich in irgendeine konkrete Richtung zu laufen. Irgendwann reihten sich mehrere Apfelbäume aneinander, die nicht sehr hoch waren und schon Früchte trugen. Ich lief durch die säuberlich gemachten Reihen. Es machte irgendwie Spaß durch diese Reihen zu laufen. So als ob man in ein Maislabyrinth ging. Nur dass es Apfelbäume waren. Ich verließ wohl irgendwie diese Anbaufläche, denn auf einmal war ich an einer anderen Stelle der riesigen Wiese. Weiße Bettlaken waren an Wäscheleinen aufgehängt, so weit das Auge reichte. Ich fragte mich, wer wohl so viele Bettlaken waschen würde. Beinahe sah es aus wie in einer Waschmittelwerbung. Die Laken wogen sich sanft im Wind.

Doch plötzlich sah ich etwas aufblitzen. Nackte Füße. Sie bewegten sich zügig nach rechts. Ich ging durch einen größeren Seitengang der Wäscheleinen und versuchte die Reihe zu finden, wo sich diese Füße befanden. Wer da wohl war. Plötzlich sah ich Strähnen vom blonden Haar aufblitzen. Doch sie verschwanden wieder irgendwo in den Laken. Ich rannte hinterher, bis ich sie plötzlich sah. Das Mädchen war etwas größer als ich, schlank und hatte eine sehr gute Figur. ihre blonden Haare glänzten in der Sonne. Ich sah sie zuerst nur von hinten. Und schon da fiel mir auf, wie lang ihre Haare waren. Sie gingen ihr fast bis zu den Oberschenkeln und waren zu zwei Zöpfen links und rechts gebunden. Sie trug ein weißes Nachthemd, das ihr bis zu den Knien ging. So ein Nachthemd, das ich auch besaß. "Ähm...", murmelte ich. Sie bewegte sich nicht. Der Wind bewegte ihre Zöpfe leicht hin und her. "Ha... Hallo?", stotterte ich. Sie drehte sich schließlich mit dem Kopf nach hinten. Ihre dunkelgrünen Augen sahen mich belustigt an. "Hi", sagte sie. Doch bevor ich noch etwas sagen konnte wandte sie sich von mir ab und lief davon. Ich blieb stehen. Der Wind wurde plötzlich stärker. Die Bettlaken flatterten und ich versuchte mich aus den Laken zu befreien. Doch alles drehte sich. Mir war plötzlich, als bekäme ich keine Luft. Der Himmel verdüsterte sich. Ich spürte wie ich fiel. Alles schien in Zeitlupe zu geschehen. Alles um mich herum schien sich aufzulösen.
Es wurde kalt in meinem Rücken. Ich hörte ein Aufplatschen. Und dann war ich in meinem alten Traum. Die Ketten jagten mich und banden mich an Händen und Füßen fest. Panisches Ziehen half nichts. Ich ertrank.

Mittwoch, 20. März 2013

Kapitel 3: Ein Gefühl


Schulschluss.
Ich lief gedankenverloren aus dem Gebäude. Unsere Schule war an sich sehr hübsch. Die Gebäude waren aus gelben Backstein und hatte irgendwie einen gewissen Charme. Sie war ganz okay ausgestattet und hatte immerhin einen Sportplatz und einen kleineren Schulhof. Außerdem hatten wir einen kleinen Vorplatz vor der Schule, der mit einem schwarzen verzierten Metallgitterzaun mit großem Tor umrandet war. Patrice unterhielt sich neben mir mit Niels und Sina. Beide gehörten im Grunde auch zu unserer kleinen Clique. Patrice trug so gut wie nie Hosen und wenn doch waren sie ziemlich knapp und sie war ansonsten auch ein ziemliches Girlie - aber sie war netter als ihr Ruf. Niels war der beste Freund von Tom, aber seit Tom und ich zusammen waren war er auffällig oft mit Patrice am zusammen.
"Ah, hey Anzu, wir treffen uns heute Abend bei Niels, kay?" Kurz schaute ich zu Patrice hinüber, deren braunblonden Locken anmutig über den Mantel fielen, während sie ihr Fahrradschloss an ihrem Lenker befestigte. "Hm", machte ich nichtssagend.
"Wir sind dann mal los, okay?"
"Okay."
Ich holte mein Handy hervor und sah nach der Uhrzeit. 14.30h. Was machte er schon wieder so lange? Die meisten Schüler unserer Stufe waren schon weg. Endlich öffnete sich die Eingangstür wieder. Tom ging typischerweise total lässig und ungehetzt hinaus. Als er mich sah grinste er mich auf seiner typischen Weise an, beschleunigte seine Schritte jedoch kein bisschen.
Zur Begrüßung haute ich ihn am Arm und sah ihn vorwurfsvoll an. Doch dann nahm er einfach nur meine Hand und küsste mich auf die Stirn und zog mich mit sich auf dem Weg nach Hause.
Da er ein Fahrrad dabei hatte liefen wir zu Fuß. Außerdem konnte ich nach dem Geschehnis am Morgen sowieso nicht an Busfahrten denken.
"Anzuuuuu?" Er grinste mich an.
"Jaahaaa??"
Er gab mir einen Kuss auf die Wange.
"Was ist los?", fragte ich.
Tom grinste nur und lief etwas voraus. Der Schnee knirschte unter seinen Schuhen. "Hey warte!", rief ich und lief ihm hinterher. Ein Schneeball prallte auf meine Jacke auf. "Fang mich wenn du kannst!", schrie er. Ich lachte. "Hey, das kriegst du zurück!"

Ich formte schnell einen Schneeball und wich einen von Tom aus. Ich traf ihn an der Seite. Wir waren in der Nähe eines Spielplatzes mit einer Wiese, quasi einem kleinen Park. Er lief auf die schneebedeckte Wiese. Ich lief ihm hinterher. Ich nahm mir sofort ein bisschen Schnee, formte sie zu einer Kugel und bewarf ihn. Er wich aus, aber ich traf ihn noch etwas an der Seite. Ich rannte auf ihn zu. Er lachte und beschmiss mich. Ich wich geschickt aus. Der Schnee in meinen Händen begann leicht zu tropfen und grub weiter nach etwas mehr Schnee. Diesmal rannte ich direkt auf ihn zu. Er traf mich ein paar Mal und ich wurde immer schneller. Dann stand ich so nah an ihm und seifte ihn ein. Er schrie kurz auf und ich lachte. Er wuschelte mich mit seinen kalt-nassen Händen über den Kopf und zerzauste meine Haare. Protestierend rächte ich mich, indem ich meine kalten Hände an seinen Nacken legte. Er wand sich und fiel nach hinten. Er klammerte sich an meine Handgelenke, sodass ich auch mein Gleichgewicht verlor und auf ihn fiel. Der Schnee hatte eine Höhe von mindestens zwanzig Zentimetern. Ich rollte mich von ihm runter etwas weiter weg und begann meine Beine und Arme zu bewegen.
Ich spürte meine Finger im Schnee, doch es war mir seltsamerweise nicht kalt. Ich schloss die Augen. Irgendwie fand ich es ganz angenehm so im Schnee. Geborgen. Ruhig. Ich bemerkte etwas warmes an meiner Hand. Tom drücktes sanft meine Hand. Seine Hand war kalt.
Seltsam dass ich diesen Temperaturunterschied so sehr spüre. Es war irgendwie angenehm. Diese Nähe, die sowohl warm als auch kalt war. Irgendwie fühlte ich mich, als hätte ich gerade etwas hochprozentiges getrunken. Ich blies in die kalte Luft.
nur eine kleine Skizze ;)
"Sag mal, hast du Fieber?"
Er stand auf. Ich öffnete stirnrunzelnd die Augen. Mir ging's gut. Er half mir auf die Beine und ich tapste vor mich hin. "Mir geht's gut", sagte ich. Er starrte mich an. "Du bist total rot im Gesicht." "Bin ich das?", fragte ich. Ich grinste und hielt mir an die Wangen. Sie glühten. Auf einmal fiel mir auf, dass mein Puls sich beschleunigt hatte. Ein neuer Anfall? Doch das war es nicht. Ich nahm seine Hand. "Komm mit mir nach Hause", sagte ich. Meine Stimme klang seltsam brüchig. Es war so seltsam und ich fühlte mich auf einmal so hilflos verloren. Ich spürte keinen Schwindelanfall oder sonstiges. Es war nur dieses seltsame Gefühl. Das seltsame Gefühl des Fallens...

Er hielt mich fest in seinen Armen. Fast wäre ich hingefallen. "Ich bring dich nach Haus", sagte er.

Mittwoch, 16. Januar 2013

Kapitel 2: Alltag


"Warum warst du zu spät?"
Gedankenverloren stocherte ich in meinem Salat herum. Der Dressing ertränkte die Gurken, Salatblätter, Möhren, Bohnen und Maiskörner. Ich hätte mir mein Geld dafür sparen können.
"Anzu?" Ich zuckte leicht zusammen und sah meine Freundin an. Sie hieß Sina und war im Gegensatz zu mir eine echte Frohnatur, eine Sportskanone und leidenschaftliche Vegetarierin. Aber wenigstens hatte sie es aufgegeben ihre Umgebung zu bekehren. Sie hatte kinnlange blonde Haare und blaugraue Augen, war einen Monat älter als ich und bildete sich auf den kurzen Altersunterschied ganz schön viel ein.
Ob ich mir stattdessen einfach ein Putensandwich holen sollte?
"Also warum warst du zu spät?", wiederholte sie ihre Frage. Ich verzog meine Mundwinkel zu einem leichten Lächeln und zwang mich, zumindest eine Gabel von dem Salat zu probieren.
"Hallo, ich reeede mit dir!"
Sina war ein klasse Mädchen nur manchmal konnte sie echt nervig sein. "Du hast wieder hyperventiliert oder?" Ihr Ton wirkte anklagend aber natürlich auf ihre typische Weise besorgt. Manchmal bereute ich es, ihr etwas von meinen Attacken erzählt zu haben, obwohl sie eigentlich meine beste Freundin war. Besonders wenn der Tag für mich mal wieder schlecht begonnen hatte.
"Ja, ich hab wieder hyperventilliert. Zufrieden?", schnauzte ich sie augenrollend an. Sina zuckte nicht mal mit der Wimper. Sie war es gewöhnt. "Nein, nicht zufrieden", sagte sie ruhig. "Es ist auch nicht so, als wär ich sooo scharf darauf diese Attacken zu haben", murmelte ich und stocherte weiter in meinen Salat.
Sie wandte sich ab und aß ihren Salat. Sie hatte extra ohne Dressing bestellt und ihr eigenes draufgetan. Das war ziemlich klug. Ich schob meinen Teller vor mich.
"Willst du meinen Salat?", fragte ich. Sina rümpfte die Nase. "Nein", antwortete sie. Ich grinste leicht. "Gut dann hol ich mir kurz noch was, ja?"
Ohne eine Antwort abzuwarten nahm ich den Teller samt Tablett um ihn zur Tablettabgabe zu bringen. Dann ging ich wieder zur Verkaufstheke der Kantine und bestellte ein Putensandwich. Auf dem Weg zurück umarmte mich auf einmal jemand von hinten. Fast hätte ich mein Essen fallen lassen.

"Guten Morgen Prinzessin", murmelte eine vertraute Stimme hinter mir. Ich wurde rot und sah Tom ins Gesicht. Sein unverkennbares Grinsen stimmte mich glücklicher. "Moin", murmelte ich. Er gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. Ich wurde wahrscheinlich noch röter. Ich konnte mich immer noch nicht wirklich daran gewöhnen, wenn mich  Tom.
Ich setzte mich. Tom setzte sich neben mich. "Naaaa holder Ritter, hast du etwa das Gemüt unserer Prinzessin gebessert?", scherzte Sina grinsend. "Ach halt die Klappe", sagte ich scherzhaft maulig. Wenn Tom in der Nähe war, war meine Laune immer um einiges gebessert.
Ich biss in mein Sandwich. Eindeutig besser. Ich lächelte Tom an. Er grinste zurück. Wir waren erst drei Wochen zusammen und kannten uns seit der neunten Klasse, als er auf unsere Schule kam. Zuerst wurden wir gute, dann beste Freunde, dann seit kurzem nun mal auch feste Freunde.
Er nahm meine eine Hand und ich aß weiter. Aber Hunger hatte ich eigentlich keinen mehr.