Freitag, 27. September 2013

Kapitel 8: Entwichen

Die Stimmung war klasse. Wir gingen Mittags alle zusammen ans Meer und veranstalteten eine Schneeballschlacht und bauten einen riesigen Schneemann, bei dem nur noch die Jungs und Annika an den Kopf rankamen.
Wir aßen was es halt so zum essen gab, liefen bisschen durch's Dorf rum und zogen einige Blicke auf uns, als Tom mit Sina huckgepack durch die Straßen rannte.

Für den Abend hatten wir eine Flasche Bacardi, Cola und etwas Bier vorgesehen. Außerdem wollten wir alle Singstar spielen, was bei einigen Stimmen wirklich nur mit Alkohol zu ertragen war. Sina und Annika sangen beide einfach nur total schief, was sie nochmal ähnlicher machte als sonst schon.
Annika war ja nur zwei Jahre älter als Sina und etwa einen Kopf größer als ihre kleine Schwester, allerdings sahen sie sich schon vom Gesicht her total ähnlich. Allerdings hatte Annika viel längere Haare und Sina war etaws zierlicher.
"Aaaaalll I waneddd waasss yuuuuuuuu", gröhlten Annika und Sina höchst asynchron und Tom konnte sich vor Lachen kaum halten. Niels und Patrice saßen verdächtig nah aneinander und ich grinste sie etwas angetrunken an. Mann, so eine Bacardi Cola ist schon ziemlich stark!
Tom packte meine Hand und als ich ihn ansah küsste er mich bevor ich irgendwie reagieren konnte.
"Kuss geklaut!", lachte er und verwuselte mir meine ausnahmsweise perfekt sitzende Frisur. "Hey!", protestierte ich und küsste ihn, während er noch lachte. "So! Jetzt sind wir quitt!", sagte ich und lehnte mich an ihn an. Er nahm mich in den Arm.
Es wurde später. Ich bekam Lust zu singen und schnappte mir ein Mikro. Ich sang irgendein Lied, das ich wirklich noch nie gehört hatte und sang es super schön falsch und erfand eine andere Melodie dazu. Annika und Sina krümmten sich vor Lachen.
"Heeeeyyy.... wer hat Lust auf Wahrheit oder Pflicht?"
Meine Güte, wie betrunken war bitte Sina? Und ihre Schwester war auch nicht gerade besser.
Ich nahm Sinas Hand, und wollte versuchen es ihr auszureden, aber Patrice kam mir in die Quere. "Au jaaaaaa!! Wahrheit oder Pfliiiiicht!"
Eindeutig auch betrunken. Niels rülpste bestätigend. Ich grinste etwas gequält und seufzte. Na gut.
Tom nahm eine leere Bierflasche und legte sie unten auf den Boden. "Lasst uns Flaschendrehen! Mit Wahrheit oder Pflicht!"
Er fing an. Die Flasche zeigte auf Annika. "Anni!!!", rief Tom, "Wahrheit oder Pflicht?" Anni gluckste vergnügt. "Ich nehme.... Waaahrheit!"
Tom überlegte kurz. "Okay, hast du momentan was am Laufen?" Annika errötete leicht und antwortete schließlich: "Naja, schon, aber ist nichts ernstes." Dann nahm sie die Flasche und drehte sie. Sie zeigte auf Patrice. "Wahrheit oder Pfliiiicht!", zwitscherte Anni. Patrice zögerte kurz und entschied sich dann für Pflicht. Annikas Grinsen wurde breit. Sie lachte etwas unheilvoll.
"Küsse Niels auf den Muuund!", verkündigte sie singend. Patrice wurde rot, aber das konnte auch vom Alkohol kommen. Niels grinste sie erwartungsvoll an. Schließlich gab Patrice ihm einen schüchternen Kuss auf den Mund. Sina machte "Uiuiui"-Geräusche. Patrice kniete sich auf den Boden und drehte die Flasche. Die Flasche zeigte auf mich. Mist!
"Wahrheit oder Pflicht?", fragte sie mich. Äh... ähm... ääääääähhhhm...
"Pflicht", antwortete ich. Patrice sah mich an, sah Tom an und schließlich begutachtete sie zuerst den ganzen Raum bevor sie dann antwortete. "Dann... geh raus und nimm einen Stock mit", beschloss sie. Was war das für eine Aufgabe?
Aber froh, rausgehen zu dürfen stand ich auf und holte meine Jacke. "Wir warten hier!", trällerte Sina. Offensichtlich hatte sie keine Lust in die Kälte zu gehen. Ich nahm mir noch eine Taschenlampe mit und stapfte nach draußen.

Es war bestimmt mindestens -10°C draußen, aber es störte mich nicht besonders. Ich stellte die Taschenlampe an. Ich seufzte. Mein Hauch war sehr gut sichtbar. Irgendwie schön erfrischend, hier draußen. Man bekam den Kopf klar. Ich wurde irgendwie nüchterner. Gut, so viel hatte ich nun auch wieder nicht getrunken. Ohne dass ich es merkte war ich schon ein ganzes Stück gegangen. Vor mir war der Strand. "Puuhhh", machte ich und beugte mich um einen ziemlich großen Haufen Schnee in meine Hand zu nehmen. Der Schnee schmolz in meiner Hand. Der Schnee schmolz schneller als sonst, aber ich dachte mir nichts dabei. Und doch wurde ich aufmerksam, als ich merke, dass kein einzigerTropfen des geschmolzenen Schnees auf durch meine Finger sickerten. Es war, als hielte ich einen großen Wassertropfen in der Hand. Es sah aus wie bei einer Oberflächenspannung, was aber auch wieder nicht sein konnte. Das Wasser war flüssig. So viel stand fest. Es konnte nicht sein.
Ich ließ fast die Taschenlampe fallen. Ich starrte auf das Wasser und stellte mir vor, wie es wäre, wenn ich die Hand umdrehen würde. Der Tropfen kroch bis zu meinen Fingerspitzen entlang. Blieb ein einziger großer Tropfen. Es war, als würden die gängigen Naturgesetze nicht gelten. An meiner Hand hing Wasser. Es war unbeschreiblich. Mein Herz pochte laut. Ich wusste nicht, was ich darüber denken sollte. Wie das möglich war. Ob ich mir das alles nur einbildete. Ob ich zu viel getrunken hatte.
Und dann... plötzlich wurde der Tropfen zu Eis. Ich ließ ihn fallen. Der Eistropfen fiel durch den weichen Schnee. Ich fühlte mich auf einmal so unwohl. Was ist das nur für ein Gefühl? Es hatte sich sehr seltsam angefühlt, als ich das Wasser berührt hatte... Als wäre es etwas Lebendiges, etwas, das einfach zu mir gehörte. Ein Teil meines Körpers... Das Gefühl, das Wasser einfach so in meiner Hand zu halten wirkte so natürlich für meinen Körper. Nur konnte ich es meinem Kopf nicht erklären. Ich wusste einfach nicht, was es war.
Ich merkte, wie ich nach Luft schnappte. Doch es war noch nicht so weit.
Ich starrte auf den Boden und plötzlich fiel mir etwas auf.

Fußstapfen vor mir, nur etwa einen Meter von mir entfernt. Der Schnee war vor mir sonst unberührt. Nur eine Fußspur. Und die führte nur bis dorthin. Zwei Stiefelabdrücke, die einen stehenden Menschen vor mir vermuten ließen. Doch genau da endete die Spur. Es war, als hätte sich der Mensch, dessen Spur es war plötzlich in Luft aufgelöst. Als hätte der Mensch nur dort gestanden. Etwas schweres und sehr kaltes lag in der Luft. Ich fühlte mich beobachtet. Wie das letzte Mal. Ausgeliefert. Ich stolperte zurück. Mein Herz raste. Ich hatte längst vergessen, was ich draußen überhaupt machte. Die Luft... sie entwich mir.

Sie entwich mir.

Das nächste, an das ich mich erinnern konnte war, dass ich vor dem Ferienhaus zusammenbrach, kurz bevor ich klingeln konnte, dass mir jemand aufmachte. Ich zitterte und meine Hände suchten nach einer Papiertüte in meiner Jackentasche, doch ich hatte momentan keine dabei. Warum hatte ich keine dabei? Achja, ich hatte sie im Haus kurz gebraucht... Mir wurde schwarz vor Augen.

Donnerstag, 12. September 2013

Kapitel 7: Freundin

Kalter Meerwind begrüßte mich, als ich den zugeschneiten Strand entlangstapfte. Meine Haare wehten chaotisch im Wind. Ich schnaubte einen nebligen Atem. Das Meer war nicht komplett zugefroren, aber viele  Eisschollen trieben auf dem Wasser.
Es war unser verlängertes Wochenende, das wir wegen einer Lehrerfortbildung hatten. Sina hatte vorgeschlagen ans Meer zu fahren, da Niels Familie ein Ferienhaus dort besaß. So sind wir mitsamt Sinas älteren Schwester Anni, die Auto und Alkohol bereit gestellt hatte hergefahren. Es war nur eine oder fast zwei Stunden Fahrt gewesen, aber es wirkte schon ganz anders. Ich emfand es als eine angenehme Abwechslung obwohl es schon bisschen seltsam war, mitten im Winter ans Meer zu fahren.
Das Meer... Ich hatte fast vergessen, welche magische Wirkung das Meer auf mich hatte.
Oder eher gesagt... alle Gewässer hatten irendwie eine magische Anziehungskraft auf mich.
Obwohl mir das Meer manchmal auch Angst machte.
Es war schwer zu beschreiben. Als ich klein war war ich ene gute Schwimmerin. Jedenfalls wurde mir das gesagt. So sehr erinnerte ich mich eigentlich nicht daran. Aber... irgendwie bin ich seit Jahren nicht mehr geschwommen. Ich hatte es sogar beinahe vergessen wie man schwimmt. Jedenfalls kam es mir etwas seltsam vor...
Der Schnee knirschte unter meinen Schuhen. Langsam würde sich die Sonne über dem Meer erheben. Es war erst sieben Uhr. Ich wusste ja selbst nicht, warum ich so früh aufgewacht war. Es war verdammt noch mal freitags. Donnerstag nachmittags waren wir losgefahren und angekommen. Am Abend hatten wir nen sehr entspannten Spieleabend, bei der wir Guitar Hero auf Niel's Wii gespielt hatten und nebenbei Lachsfillet (Sina unsere Vegetarierin hatte sich irgendetwas eigenes gemacht) gegessen hatten. Es war sehr fröhlich.
Es war diese Art Ablenkung, die ich dringend mal gebraucht hatte, um vor diesen irrationalen Ängsten loszukommen...

Und trotzdem. Irgendwie konnte ich nicht lange schlafen. Wahrscheinlich hatte ich den selben Traum wie immer, aber diesmal konnte ich mich nicht gut dran erinnern. Ich war allerdings mit einer Papiertüte am Mund zu Bewusstsein gekommen, also jah...
Am Horizont war der Himmel wunderschön rot. Leicht orange, aber vor allem rot. Ich hatte fast vergessen, wie sehr ich Sonnenaufgänge mochte. Ich atmete tief durch. Frei. So konnte man mein Gefühl beschreiben das ich gerade hatte.

Frei.

Plötzlich wurde ich auf eine Figur aufmerksam, die nicht weit von mir auf dem Boden saß. Leicht bekleidet, nur mit einer Jogginghose und einem weißem Top. Nur die Schuhe waren etwas wärmer. War ihr nicht kalt? Als ich näher kam erkannte ich sie.
Patrice sah gedankenverloren in die Ferne. Ihre hellbraunen Haare wehten sanft hin und her. Ich hockte mich neben sie. Sie schien mich ersteinmal nicht zu bemerken bis ich sie leicht antippte. Sie zuckte nicht zusammen, aber drehte den Kopf zu mir um. Ihre zweifarbigen Augen sahen mich unergründlich an.
"Pat... ist dir nicht kalt?"
Patrice antwortete nicht und richtete ihren Blick wieder auf die Ferne. Ich setzte mich ordentlich neben ihr Hin und zog meine Jacke aus. Ich hatte schließlich immerhin noch einen Pulli darunter an. Ich legte meine Jacke um sie.
"Du unterkühlst sonst noch", sagte ich.
Patrice öffnete den Mund, als wenn sie etwas sagen wollte, schloss ihn dann wieder. Dann sah sie mich noch einmal an. "Sag mal Anzu... hast du schon mal daran gedacht wie es wäre zu sterben?"
Diese Frage traf mich unvorbereitet.
"Wa... was? Ich..." Ich stotterte. Dann nahm ich tief Luft. "Warum fragst du mich das?"
Patrice sah lächelnd wieder zum Horizont. "Ich habe mal daran gedacht", sagte sie und streckte ihren linken Arm aus. Mir fiel auf, dass es eines der wenigen Male war, die sie keine Armbänder trug. Eine Narbe zog sich quer über das Handgelenk. Ich schwieg. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte.
"Es ist schon einige Jahre her", erklärte sie weiter, "ich war ziemlich dumm, aber was soll's... ich habe keinen Grund mehr einfach so... zu sterben." Ich sah sie nachdenklich an. "Weißt du Anzu", sagte sie, "ich habe euch echt alle sehr gern. Auch wenn ich's manchmal nicht so gut ausdrücken kann."
Ich nickte und lächelte. "Wir haben dich auch alle sehr gern Pat", sagte ich. Eine Weile schwiegen wir. Die Sonne kam langsam aus dem Horizont empor.
"Die Sonne geht auf", bemerkte Patrice. Sie lächelte. "Ja", lächelte ich zurück. Ob sie wohl sich gerne öfters den Sonnenaufgang ansah? Auch wenn wir befreundet waren, wurde mir zum ersten Mal bewusst, wie wenig sie eigentlich über sich erzählte. Nur manchmal, wie jetzt, bekam man einen Einblick von ihr. Und trotzdem. Nichts würde verändern, dass sie ein toller Mensch war, der in unserer Gruppe unersetzbar war.

"Unsere Gruppe".
Es war, als hätte ich vergessen, wie wohl ich mich eigentlich bei ihnen fühlte. Es stimmte mich traurig und glücklich zugleich. Ein kalter Wind ließ mich etwas frösteln.
"Achja Anzu..."
Ich sah hinüber zu Pat. Sie sah mich etwas verlegen an und wurde etwas rot. "Meinst du... ich könnte eine Chance bei Niels haben?"
Ich starrte sie an und musste unweigerlich lachen. "He... hey!", protestierte Patrice, "warum lachst du?" Ich hörte langsam auf zu lachen und grinste breit. "Sorry", grinste ich, "aber du musst zugeben, du redest recht selten über Jungs, die dir gefallen. Sogar seltener als ich und das soll was heißen!"
Patrice lächelte unsicher. Ich hakte mich bei ihr ein. "Ganz bestimmt hast du eine Chance, so wie er dich immer ansieht!", antwortete ich ihr schließlich, "ich dachte sogar, dass ihr bereits zusammen seid, so wie ihr manchmal zusammen abhängt..."
Patrice grinste. "Er ist... cool", sagte sie schließlich. Ich umarmte sie ohne Vorwarnung. Mit leichter Verzögerung knuddelte sie mich zurück. Normalerweise war es Sina, die einfach so Leute umarmte, aber mir war danach.
"Wollen wir zurückgehen?", fragte ich schließlich." Pat nickte. "Okay."