Samstag, 23. März 2013

Kapitel 5: Vergangenheit

Es waren nun einige Wochen vergangen, seit ich den komischen Traum von dem Mädchen mit den langen blonden Zöpfen hatte. In der Zeit hatte ich nichts weiter geträumt außer die alten Träume über's Ertrinken. Langsam schien es fast, als würde ich mich daran gewöhnen. Wobei die Vorstellung grausam war, sich daran zu gewöhnen, langsam zu sterben.
Wann hatten diese Träume überhaupt angefangen? Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern. Doch ich hatte sie schon sehr lange. Als ich klein war, war ich nachts weinend aufgewacht, ohne mich an den Traum zu erinnern, der mich verfolgte. Seit ich ungefähr zwölf war schien es mir, als würde ich jede Nacht mit diesem Traum sterben. Ich erinnerte mich nach dem Aufwachen an immer mehr Details meines immer wieder kehrenden Albtraums und selten träumte ich etwas anderes. Es gab Zeiten, an denen ich Angst hatte zu schlafen. Mit vierzehn oder so hatten meine Eltern zur regelmäßigen Therapie geschickt. Doch wirkliche Erfolge hatte ich nie erzielt. Meine Therapeutin Dr Starson hoffte irgendein wahres Ereignis aus meiner Kindheit herauszufinden. Aber ich war nie ertrunken oder hatte Ereignisse erlebt, die dem ähnlich waren. Doch... es war so ein Gefühl, als würde mir mein Instinkt irgendetwas damit sagen.
Es war schwer zu erklären, welches Gefühl es war. Ich fühlte mich so oder so schon abnormal genug. Selbst wenn ich Freunde hatte, die alle auch nicht gerade alle Tassen im Schrank haben.
Sina zum Beispiel hatte einen ziemlichen Wahn zum Fitness und joggte täglich mehrere Kilometer.
Patrice hatte erst seit etwa zwei Jahren aufgehört sich zu ritzen, was mich sehr überrascht hatte, als sie das erzählte.
Niels... naja, war eher so ein komischer eigenbrötlerischer Typ, der furchtbar lieb zu allen war und beinahe ein Nerd wie es im Buche stand.
Und Tom... er war vielleicht der einzige Perfekte bei uns. Er hatte es wahrscheinlich nicht leicht, da er nie seinen Vater kennengelernt hatte und so nur mit seiner Mutter aufgewachsen war. Aber das hat ihn zu jemand gemacht, der fürsorglich, verantwortungsbewusst und treu war. Ich kannte ihn schon seit Langem, noch als er noch nicht in unserer zugegeben schicken Gegend wohnte. Damals wohnte er etwas außerhalb und musste 20 Minuten mit dem Fahrrad fahren oder 13 Minuten mit dem Bus zur Schule fahren. Das war jetzt nicht so viel, aber wir wohnten schließlich auch in einer kleinen Stadt.
Seine Mutter hatte ihn in der Grundschulzeit fast immer hingebracht und abgeholt, ihre Arbeitsstelle war ganz in der Nähe.
Wir gingen also in dieselbe Grundschulklasse. Anfangs hatten wir uns nur gegenseitig geärgert. Doch das änderte sich, als wir nebeneinander gesetzt wurden. In der Pause holten wir unsere Brotdosen hervor und mussten feststellen, dass auf unseren Brotdosen Charaktere derselben unbekannten Kinderserie drauf waren, die wir sehr mochten. Ansonsten hatte nämlich keiner die Serie gekannt. Dann hatten wir uns darüber unterhalten und mehr Gemeinsamkeiten gefunden. Wir hatten angefangen öfter zusammen zu spielen und ehe wir uns versahen waren wir auch beste Freunde.
Als wir in die dritte Klasse kamen, bekam seine Mutter eine höhere Stellung, weshalb sie sich schließlich die Wohnung in unserer Gegend leisten konnten. Wir waren überglücklich, dass wir fast Nachbarn waren. Als wir ins Gymnasium kamen, lief's zwischen uns nicht mehr so gut. Wir waren zwar immer noch Freunde aber besonders zwischen der fünften und achten Klasse hatten wir uns ziemlich oft gestritten. Immer hatten wir uns wieder versöhnt, aber es war eine kritische Zeit. In der Zeit freundete er sich mit Niels an und ich war sehr eifersüchtig auf ihn. Gleichzeitig jedoch war ich in so einer Art Mädchenclique, von denen Tom viele überhaupt nicht mochte. Sina war auch dabei und war damals wirklich anders: sie war eine blonde Barbie, die auch noch Tennis spielte. Irgendwie der Inbegriff eines Snobs. Und das mit damals noch elf/zwölf Jahren. Trotzdem hatten wir uns total gut verstanden und irgendwann mit dreizehn/vierzehn sah sie auch ein, dass ihr dieser Snob-Kram nicht stand.
In der achten Klasse flogen Sina und ich aus der Clique. Und das, weil Sina anfing sich für Tierschutz zu interessieren und allen wohl mit ihrem Weltverbesserer-Tick auf den Keks ging. Und ich flog von der Clique, weil ich Sinas beste Freundin war.
Wir waren vierzehn, fast in der neunten Klasse. Spätestens jetzt kam jeder in die Pubertät oder erreichte eine kritische Phase. Sina hatte sich total in Tom verschossen und bettelte jedes Mal, ich sollte sie mit ihm verkuppeln. Tom und ich allerdings waren mehr oder weniger im Streit, da ich mich nicht mit Niels verstand und Tom Sina immer noch für eine verwöhnte reiche Prinzessin hielt.
Dies änderte sich dann aber irgendwann bei einer Klassenfahrt in der neunten Klasse. Keine Ahnung mehr wie genau, aber plötzlich waren wir alle gute Freunde. Sinas Verknalltheit in Tom hatte sich gelegt und sie war für ihn auch keine unausstehliche reiche Göre mehr.
Und nun waren wir in der elften Klasse. Das hieß, wir waren in der Oberstufe und unser Abitur lag nur noch ein Jahr in der Zukunft. Wir hatten unsere Leistungskurse gewählt und eine neue Freundin gewonnen. Patrice.
Als sie zum ersten Mal die Tür in unserem Physikraum betrat dachte ich, sie hätte sich verlaufen. Es war Sommer, wir trafen uns mit dem Physik-Leistungskurs. Augenscheinlich waren alle irgendwie Nerds oder Streber. Wir waren nur vier Mädchen. Da kam ein fünftes Mädchen in den Raum, im kurzem Jeansmini, Chucks, einem schwarzem Top und Jeansjacke, die sie nicht auszog. Dazu trug sie eine lange silberne Kette mit einem Vogelkäfig daran. Ihre langen brünetten Locken wirkten beinahe divahaft und hatte dunklen Lidschatten aufgetragen. Dazu noch diese große braune Handtasche... Sie wirkte nicht wie eine typische Physikleuchte und zu allem Überfluss setzte sie sich auch noch neben mich. Alle hatten sie nur fasziniert angestarrt, bis sie allgemein in die Runde sagte: "Hi, ich bin Patrice. Wenn ihr noch nie ein Mädchen gesehen habt, macht doch ein scheiß Foto von mir!" Einerseits war das schlagfertig, aber auch irgendwie arrogant und genauso verhielt sie sich meistens, wenn sie nicht gerade dabei war zurückhaltend und still zu wirken.
Niels, Tom, Sina und ich mochten sie am Anfang deswegen auch nicht, aber irgendwie war sie auch immer in unserer Nähe, ohne irgendetwas zu sagen. Sie gehörte keiner Clique an und wirkte nicht so, als würde sie sich überhaupt eingliedern wollen. Doch gute Noten schrieb sie. Sie hielt es zwar geheim, doch als ihre Sitznachbarin sah ich, dass sie in Physik laufend 15 Punkte in Klausuren bekam.
Und da sie uns persönlich nie beleidigt hatte, sondern irgendwie nur bisschen gestalkt und uns manchmal sogar bei Schulaufgaben geholfen hatte, gehörte sie irgendwann auch zu uns. Sie redete immer noch ungern, aber wir hatten auch ihre guten Seiten an ihr gefunden. Sie war zuverlässig, wenn es darum ging Geheimnisse für sich zu behalten, war eigentlich ziemlich großzügig und nicht nachtragend. Außerdem besaß sie irgendwie einen schön trockenen Humor und eine makabere Art, für die wir sie besonders ins Herz geschlossen hatten.
Vor einiger Zeit hatte sie uns erzählt, dass sie sich mal geritzt hatte. Doch warum hatte sie uns nicht erzählt. Irgendwie war sie rätselhaft,  irgendwie aber auch ziemlich cool.

Bei der Erinnerung an die erste Begegnung mit Patrice musste ich grinsen. Ja, wir waren schon ein lustiger Haufen, der wegen den kranken Eigenarten von jedem total gut zusammenpassen. Fast wie eine Familie... Ich seufzte. Es war Donnerstag, was hieß, dass ich mal wieder zur Therapeutin musste. Nach einem langen Schultag war es fast eine Zumutung, doch andere Termine würden entweder Dr. Starson oder mir nicht passen. Und so machte ich mich direkt nach der Schule, um 16 Uhr auf den Weg zu einer weiteren Therapiesitzung, die mal wieder nichts bringen würde...

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