Freitag, 4. Oktober 2013

Kapitel 9: Schlinge

Das Mädchen mit den langen blonden Haaren hatte diesmal keine Zöpfe. Trotzdem erkannte ich es sofort. Sie trug das selbe weiße Kleid. Und vor allem: Es war der selbe Gesichtsausdruck. Die selben dunkelgrünen Augen. Doch diesmal rannte sie nicht vor mir weg. Sie starrte mich nur an. Unverwandt. Etwas Kalt und doch auf eine seltsame Art und Weise belustigt. Mir fiel auf, dass ihre dunkelgrünen Augen eigentlich gar nicht so grün waren. Es war eher eine Mischung zwischen grün und blau. Sie schien mir etwas sagen zu wollen und hatte den Mund leicht geöffnet. Doch sie sagte nichts, sondern lächelte mich nur an. Doch das Lächeln reichte nicht bis zu ihren Augen. Es war eher ein leeres Lächeln. Sie sah aus wie eine traurige Puppe. Wie alt sie wohl war? Sie könnte genauso alt sein wie ich, aber genauso gut etwas älter oder ein zwei Jahre jünger als ich. Ich starrte sie nur an und konnte auf nichts anderes achten. Ich wollte sie etwas fragen, doch ich wusste nicht was.
Plötzlich fiel mir etwas auf. Um ihren Hals war eine lose Schlinge. Ich folgte mit dem Blick dem Lauf des Seiles und sah, dass das Seil bis zum Boden reichte und weit irgendwo hin führte. Ich sah das Ende nicht. Ich sah ihr wieder ins Gesicht. Das Mädchen lachte. Plötzlich holte sie ewtwas aus ihrer kleinen ledernen Tasche die über ihre Schulter hing und ich erst jetzt bemerkte. Es war ein alter Handspiegel. Ein silberner mit hübschen Verzierungen. Sie hielt mir den Spiegel vor das Gesicht. Mein Spiegelbild trug ebenfalls eine lose Schlinge um den Hals. Ich tastete vorsichtig an meinem Hals und spürte das grobe Seil. Es war schwer. Und führte bestimmt auch ins Endlose.

Das Mädchen kicherte. Ich sah sie an. "Es wird nicht mehr so lange dauern", sagte sie. Ich starrte sie verwirrt an. "Lange dauern... was wird nicht mehr so lange dauern?", fragte ich sie. Doch sie drehte sich plötzlich um. Wie das letzte mal entfernte sie sich von mir. Nur leise vernahm ich eine Art bitteres letztes Flüstern von ihr. "Es wird nicht mehr so lange dauern, dann bist du auch so verloren wie ich."


Ich hörte eine Stimme, ganz weit entfernt. Eine vertraute Stimme. Eine beruhigende Stimme.
Ich fühlte, wie jemand mich im Arm hielt. Es war warm. Angenehm.
Und ein Mädchen, das nach meinem Namen rief. Nicht nur ein Mädchen. Es war auch die beruhigende männliche Stimme.
"Anzu! Anzu!!"
"Beruhige dich Anzu!"
Bestimmt schrien die Stimmen, aber sie kamen mir so vor, als würden sie flüstern. Beruhigend auf mich flüstern. So als wäre ich in einem See und sie wären an der Oberfläche.

Ich wurde ruhig. Plötzlich registrierte ich auch andere Sachen. Dass ich langsam gleichmäßiger atmete, dass mir eine Papiertüte an Nase und Mund gehalten wurde. Die sich langsam auf und ab bewegte. Ich fand es schon immer irgendwie lustig, wie sich die Papiertüte bewegte, wenn ich da rein atmete. Jedenfalls als ich gelernt hatte sie zu benutzen. Danach hatte ich es weniger lustig gefunden, wenn ich sie brauchte.
Ich merkte, dass Tom mich fest in seinen Armen hatte. Und dass Sina neben ihm saß und meine Hand hielt. Sie wimmerte ein bisschen. Ich öffnete langsam die Augen. Ich blinzelte, bevor ich wirklich wahrnehmen konnte, wer und was vor mir war.
Patrice und Niels standen wie erstarrt neben Sina und Annika. Ich war im Eingangsbereich des Ferienhauses.
Ich bewegte mich etwas. Ich fühlte mich etwas steif. Ob sie schon einen Notarzt gerufen hatten oder ähnliches?
Ich hoffte es nicht, denn es war zwar eine Weile her, seit ich das letzte Mal wirklich zusammengebrochen war, aber ich konnte damit umgehen. Ich fragte mich, was passiert wäre, wenn sie mich nicht so schnell bemerkt hätten. Ich schauderte leicht.

Ich atmete tief und ruhig durch. Dann bewegte ich meine Arme etwas hoch, um zu signalisieren, dass alles wieder gut war. Tom nahm vorsichtig die Papiertüte von meinem Gesicht und umarmte mich fest. "Gott sei dank Anzu! Ich habe mir solche Sorgen gemacht!" Ich drückte mich an ihn. Diese guttuende Wärme. Ich schloss für einen Augenblick die Augen und ließ mich schließlich von ihm ab. Sinas Augen waren etwas feucht, aber sie würde niemals behaupten, dass sie kurz davor war zu weinen. Jemand umarmte mich von hinten. Patrice.
"Es tut mir so leid", flüsterte sie und ich merkte, dass ihre Stimme zitterte. Ich nahm ihre Hand. "Schon gut, Pat", brachte ich hervor. Sie löste sich von mir und ich bemerkte, dass sie ziemlich zitterte und Tränen in den Augen hatte. Niels nahm sie in den Arm.
Die Stimmung wirkte einerseits so erleichtert und doch so angespannt. Ich lächelte leicht. "Leute... beruhigt euch wieder, mir geht's okay." Alle nickten und wir setzten uns alle wieder ins Wohnzimmer hin.
"Hat einer von euch den Notarzt gerufen?", fragte ich in die Runde des Schweigens. Annika schüttelte den Kopf. "Noch nicht, aber ich war kurz davor."
Ich nickte. "Okay. Braucht ihr nicht. Mir geht's gut."
Schweigen. Tom hielt mich dicht bei sich, als hätte er Angst mich wieder los zu lassen. Sina schien noch einigermaßen gelassen zu sein. "Ich... bei der Klassenreise hattest du ja auch etwas ähnliches", murmelte sie. Trotzdem sah man ihr an, dass sie sich Sorgen gemacht hatte.

Tränen stiegen in mir auf. So viele Menschen die sich um mich kümmerten. Ich lächelte. Ich war glücklich. Ich kuschelte mich an Tom. Er küsste mich sanft auf die Stirn. Im Hintergrund lief irgendein Lied aus der Stereo-Anlage.
Normalität kehrte wieder. Ich würde das  mit meinem Anfall bei nächster Gelegenheit meiner Psychiaterin erzählen.
Aber jetzt wollte ich erst einmal wieder normal sein.
Niels und Patrice setzten sich auf das Sofa und tranken Arm in Arm ein Bier zusammen. Sina und Annika hockten sich wieder auf dem Boden, während sie mich dennoch nicht aus den Augen verloren. Als ich sie anlächelte lächelten sie verlegen zurück und wandten sich dem Fernseher zu, um zu diskutieren, ob sie noch etwas zocken wollten
Und für Tom schien alles außer uns weit weg zu sein. "Ich hatte wirklich Angst dich zu verlieren", flüsterte er sanft. Ich küsste ihn. Er erwiderte meinen Kuss. "Ich will dich nicht verlieren", sagte er. Ich sah ihm in seine schönen braunen Augen. Ich sah es ihm an. Diese Angst, die er zuvor noch hatte. Diese Sorge um mich. Aber auch diese Liebe. Ich war ihm wirklich wichtig. Ich wurde rot und musste unwillkürlich lächeln. Er war mir doch auch wichtig. Der wichtigste Mensch in meinem Leben. "Wirst du nicht", versprach ich leise. Ich legte meinen Kopf an seine Brust und schloss die Augen. Er streichelte zärtlich meinen Rücken. Ich  gähnte leise und bemerkte wie müde ich eigentlich war. Nun... es war wahrscheinlich wirklich mitten in der Nacht und ich hatte die Nacht davor kaum geschlafen...
Und ehe ich mich versah war ich tatsächlich eingeschlafen.

1 Kommentar:

  1. Sehr schönes Kapitel. Ich muss sagen, ich bemerke einen relativ großen Unterschied zu den vorigen, wo noch ein zwei etwas störende Wiederholungen drin waren, aber hier wars eigenlich gar nicht so. Einzig dass zwischendurch viele kurze Hauptsätze kamen, hat meiner Meinung nach den Lesefluss kurz ein bisschen stocken lassen, aber das waren ja wirklich nur drei Stück oder so. Gefällt mir vom Stil her wirklich gut und das Mädchen kam auch wieder vor und die Handlung geht etwas weiter...ich bin auf jeden Fall sehr neugierig!

    Liebe Grüße,
    Charly :)

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