Mittwoch, 26. März 2014

Sidestory: Patrice Part 1

(Kleine Notiz am Rande: Dieses Kapitel ist kein normales Kapitel und kann unabhängig von der Hauptstory gelesen werden. Nähere Infos im Newsfeed .)

Ich rannte. Ich rannte durch Menschenmengen. Sie verfolgten mich. Sie? Ich weiß gar nicht wer das war. Es waren immer ganz andere Gestalten. Ich hatte ein langes weißes Kleid an, meine langen braunen Haare wehten nach hinten. das Kleid sah fast aus wie ein Brautkleid. Ich hatte es hochgezogen, damit ich schneller rennen konnte. Ich war barfuß. Der Boden war hart und körnig. Dreckig.
Ich rannte. Und rannte. Durch das Labyrinth von Menschen und Straßen. Ich hörte wie sie alle redeten. So laut. Einige zeigten auf mich. Aber wirklich verstehen konnte ich nichts.
Es war fast wie ein Surren.
Ich lief in eine Gasse. Ich wusste, dass ich da nicht reinlaufen sollte, aber ich tat es immer wieder. Eine Sackgasse. Ich hörte die wütenden Rufe hinter mir. Ich drehte mich um. Die Meute. Ich rannte in die Sackgasse. Ich presste mich an die Wand. Als ob ich verschwinden könnte. Ich zitterte. Mein Herz raste. Plötzlich berührte mich jemand an der Hand. Ich sah nach links. Ein Junge, etwa in meinem Alter lächelte mich an. Es wirkte beruhigend, wenn auch irgendwie seltsam. Wie war er dorthin gekommen? Er war einen Kopf größer als ich und hatte hellbraune Haare. Seine dunkelbraunen Augen wirkten warm und doch irgendwie weit entfernt. Ich fragte mich wohl wer das war? Ich sah ihn jedes Mal, wenn ich in diese Gasse kam.
Ich sah nur noch ihn an. Ich hörte wie meine Verfolger uns bedrängten. Ich hielt seine Hand. Er war der einzige, der mich davor retten konnte...

Ich wachte auf. Mein Handywecker spielte ein nerviges Lied von den Charts, das ich mir extra dafür heruntergeladen hatte. Ich schaltete es so schnell es ging aus. Ich saß aufrecht in meinem Bett, ohne dass ich es mir bewusst war. Ich fuhr mir durch meine Haare. Dann stand ich auf. Es war der erste Tag nach den Ferien. Jedenfalls in diesem Bundesland. Mein Zimmer war noch nicht ganz eingerichtet. Ich war gerade erst hergezogen. Aber immerhin war es in einem hübschen Grün gestrichen und hatte bereits einen Kleiderschrank, der aber noch nicht ganz eingeräumt war. Am Kleiderschrank war ein großer Spiegel angebracht. Der Schrank stand beinahe direkt vor meinem Bett. Und mein Bett war ein schönes großes Bett mit weicher Matratze. Yvonne hatte sich wirklich selbst übertroffen. Sie hatte sich alles gemerkt, was ich ihr alles erzählt hatte. Dass hellgrün meine Lieblingsfarbe war. Dass ich gerne in einem relativ großem Bett schlafe und am liebsten weiche Matratzen hätte.
Und direkt an meinem Schlafzimmer war ein kleines Badezimmer mit einer Dusche. Für mich. An dem Morgen duschte ich ausgiebig. Es war immerhin mein erster Tag an der neuen Schule. Auch wenn ich mich so sehr auch nicht darauf freute. Neue Mitschüler. Neue Umgebung. Es könnte ein schöner Neustart sein. Aber es könnte auch schlimmer sein als früher.
Es sollte warm werden, hatte ich gehört, deshalb zog ich einen kurzen Rock an und ein schwarzes Top an. Außerdem noch eine Jeansjacke darüber. So konnte ich immerhin meine hässlichen Narben verdecken, die sich vor allem auf meinen Oberarmen zeigten. Außerdem trug ich mehrere Armreifen und Armbänder. Mir war klar, dass ich damit aussah wie eine typische Tussi. Aber das war mir ausnahmsweise mal egal.
Ich besah mich im Spiegel mit meinem Outfit.
Ich bin hübsch, genauso wie ich bin, redete ich mir ein. Ich strich mir über meine langen braunen Haare. Sie sind leicht gelockt. Manchmal hätte ich gerne glattere Haare, weil sie dann nicht so sehr abstehen würden. Aber wenn ich mir meine Haare glättete sah es irgendwie nicht wirklich nach mir aus.
Meine Augen waren verschiedenfarbig. Eines war braun, das andere war grün. Früher hatte ich Kontaktlinsen getragen. Um irgendwelche Kommentare zu vermeiden. Ich fand es außerdem nicht so hübsch. Es wirkte so... unsymmetrisch. Einfach seltsam.
Aber egal. Wenn ich einen Neustart wollte, sollte ich immerhin versuchen ich selbst zu sein.
Ich war jetzt siebzehn. Am Tag zuvor war mein Geburtstag gewesen. Und nun kam ich in die elfte Klasse. Oberstufe. Was auch immer. Ich wusste nicht, ob ich darüber glücklich sein sollte oder nervös. Ich wusste einfach nicht, wie man mit Menschen umgehen sollte. Sie waren einfach so heuchlerisch. Und wenn ich auf dem ersten Blick weiß, was sie wirklich von mir wollten ist es einfach wirklich enttäuschend.
Ich ging nach unten in die Küche. Yvonne hatte bereits Frühstück vorbereitet. Mittlerweile kannte ich sie schon fünf Jahre lang und vor drei Jahren hatte sie sich zur Aufgabe gemacht mich bei ihr aufzunehmen und zu adoptieren. Der Prozess war wirklich nicht gerade einfach gewesen. Es war ein ständiges hin und her gewesen mit meinen Eltern und der Bürokratie. Es war ja nicht mal so, dass ich ihnen was bedeutet hätte, aber ich war trotzdem ihre Tochter gewesen und somit immerhin etwas, das zu ihnen gehörte. Wie ein Schmuckstück. Ein Gegenstand.
Egal, ich soll mich nicht um die Vergangenheit kümmern. Jetzt gehörte ich offiziell zu Yvonne. Seit etwa einem Jahr. Nur jetzt durfte ich endlich bei ihr wohnen. Die Klinik war zwar teilweise okay, weil einige Menschen dort cool waren, aber es war nicht dasselbe wie ein normales Leben zu führen. Ich bin froh jetzt nur noch bei Yvonne und ihrem Freund Maik zu wohnen.
"Bist du sicher, dass ich dich nicht zur Schule bringen soll?", fragte Yvonne, während ich mir Cornflakes in meine Schüssel tat. "Ja, ich weiß wo das ist", antwortete ich und goss mir Milch ein, "ich werde mich nicht verlaufen oder irgendwelchen Unsinn bauen." Yvonne nickte etwas besorgt und biss von ihrem Marmeladenbrot ab. "Dann ist gut", murmelte sie, "wann hast du Schulschluss?" - "Um zwei. Danach hab ich Therapie. Um vier."
Yvonne nickte nochmals. "Okay. Also ich werde heute bis halb sechs arbeiten. Maik kommt schon um halb vier nach Hause. Du darfst gerne außerhalb essen, hier ne Pizza bestellen oder kochen. Einkaufsgeld ist in der Keksdose, falls du was brauchst." Ich winkte ab. "Ich werde in der Schule was essen. Passt schon."
"Okay."
Ich lief nach dem Frühstück direkt los. Die Sonne blendete bereits, also zog ich mir meine Sonnenbrille an. Ich hatte schon immer einen guten Orientierungssinn. Was wohl daran lag, dass ich früher ständig durch die Stadt gestreift war und mir angewöhnte jeden Winkel zu merken.
Zur Schule war es mit dem Fahrrad keine zehn Minuten entfernt, aber noch besaß ich keins. Außerdem konnte ich zu Fuß viel mehr Einzelheiten der Stadt merken. Und so weit war die Schule wirklich nicht entfernt. Ich sah bereits viele Schüler, die allein oder in Gruppen, auf dem Fahrrad oder zu Fuß an mir vorbei gingen oder fuhren. Ich holte einen Zettel aus meiner Tasche, einen Gebäudeplan der Schule. Den Direktor hatte ich vor paar Monaten schon kennengelernt und er hatte mir dann einige Informationen per Post geschickt. Darunter auch mein Stundenplan, den die anderen Schüler erst heute bekommen sollten. Der Direktor war ganz nett. Ich hoffte, dass es mir an der Schule besser ergehen würde als früher.
Und dann stand ich da. Der kleine Hof, das große Tor, die etwas älteren Gebäude aus gelben Stein. Der Hof verlief seitlich und man konnte etwas weiter weg einen kleinen Sportplatz sehen. 550 Schüler sollte die Schule in etwa haben. Da war das Hauptgebäude, das ziemlich hoch ragte und ein Nebengebäude, das sich rechts schräg gegenüber befand.
Ich musste in den Physikraum, der sich irgendwo im Hauptgebäude befinden sollte. Raum 140. Ich vermutete, dass der Raum irgendwo im ersten Stock war. Also betrat ich das Hauptgebäude und ging mit einem Blick auf den Gebäudeplan in den ersten Stock. Ich fand recht schnell den Raum, er war sehr nah am Treppenhaus. Schon vom Weitem hörte ich sie. Sie redeten über die Ferien, über Schule... alles mögliche.
Ich wurde nervös. Mein Herz pochte laut. Wie würden die alle sein? Ich hatte solche Angst davor, dass sie mich hassen würden. Und gleichzeitig... Ich schluckte. Ich musste da durch und ich hoffte, dass es nicht so schnell auffällig werden würde, dass ich fast zwei Jahre älter war als der Rest.
Ich betrat den Raum und ziemlich schnell wurde es ruhig im Raum. Alle starrten mich an. Neugierig, perplex. Ich ballte meine Hände zu Fäusten um mir nicht anmerken zu lassen, dass ich zitterte.
Die Schüler in dem Raum sahen alle sehr nett aus, weniger oberflächlich als die Leute, die ich von der alten Schule gewohnt war. Es waren zum Teil die typischen "Nerds" die ich im Physikleistungskurs erwarten würde. Teilweise einfach ganz normale Schüler, die intelligent, aber nicht wie totale Streber wirkten. Ich nahm tief Luft und schluckte. Sie starrten mich immer noch an. Es wurde mir unangenehm.
Was soll ich nur sagen? Ich sollte mich vorstellen oder? Vielleicht sollte ich witzig sein? Oder lieber schüchtern und natürlich?
Aber wenn man es genau nimmt passte "schüchtern und natürlich" nicht gerade zu mir. Vor einer geraumen Zeit war ich nach außen hin nämlich so ziemlich das Gegenteil. Ich wusste, dass diese Fassade falsch war, aber es war einfacher, als ich selbst zu sein... Ich selbst... wer war ich schon?
So viele Gedanken kreisten in meinem Kopf bis ich plötzlich irgendetwas sagte, ohne darüber wirklich nachzudenken.
"Hi, ich bin Patrice. Wenn ihr noch nie ein Mädchen gesehen habt macht doch ein scheiß Foto von mir!"
Was zum Henker hatte ich da gerade gesagt? Ein leises verlegenes Murmeln machte sich breit, bis sich die ersten wieder ihren Freunden zuwanden und tuschelten und reden. "Was will die denn?" - "Zicke?" - "Oh Mann..."
Verdammt! Das musste der schlimmste erste Eindruck gewesen sein, den ich hätte machen können. Aber jetzt gab's kein Zurück. Nur kurz danach, während ich immer noch unschlüssig in dem Raum stand kam plötzlich ein glatzköpfiger Lehrer herein. Alle nahmen ihre Plätze ein. Ich blickte mich kurz suchend um und fand dann schließlich neben einem asiatisch aussehendem Mädchen Platz, die allerdings etwas ablehnend wirkte, als ich mich setzte. Es waren insgesamt noch einige Plätze frei, aber sie war die einzige ohne Sitznachbarn, weshalb ich mich einfach zu ihr sitzte. Ich wollte nicht den Eindruck vermitteln, dass ich antisozial und arrogant war, indem ich mich an einem Einzeplatz setzte.
"Hi", sagte sie zu mir. "Hi", nuschelte ich zurück. Der Lehrer schrieb seinen Namen an die Tafel und lehnte sich an das große Lehrerpult. Er hieß Herr M. Anders (laut meinen sonstigen Unterlagen hieß er mit Vornamen Mathias) und lehrte Physik und Geographie. Er wollte gerade die Anwesenheit kontrollieren, da stürmten noch zwei Jungs in den Raum. Außer Atem grinsend entschuldigten sie sich bei dem Lehrer und setzten sich an den Tisch rechts vor mir. "Patrice August." Ich meldete mich schweigsam und ließ meinen Blick schweifen. Mein Blick wanderte zu den zwei Zu-Spät-Kommern. Ein hübscher blonder Junge in einem grau-gestreiftem T-Shirt und ein braunhaariger Junge, dessen Gesicht ich zuerst nicht wirklich sah.
Gerade wollte ich meinen Blick abwenden, da sah der Junge mit den hellbraunen Haaren in meine Richtung. nettes Gesicht, schwarzes Shirt, warme dunkelbraune Augen. Ich starrte ihn an. Er sah nicht zu mir, sondern zu dem Mädchen neben mir, aber irgendetwas an ihm löste etwas in mir aus, das sich wie tausend elektrische Schläge anfühlte. Etwas, das mir bei ihm sofort vertraut vorkam. Als ob ich ihn schon seit Jahren kennen würde.
Zuerst wusste ich nicht, was es war. Er war ein normaler Junge mit einem Allerweltsgesicht. Unscheinbar. Aber ich konnte nicht anders, als ihn anzustarren.
Und plötzlich wusste ich, woher ich ihn kannte...

Ein Junge, etwa in meinem Alter lächelte mich an. Es wirkte beruhigend, wenn auch irgendwie seltsam. Er war einen Kopf größer als ich und hatte hellbraune Haare. Seine dunkelbraunen Augen wirkten warm und doch irgendwie weit entfernt. 
Diese Augen..
Jene Augen, die ich unter allen Augen wieder erkennen würde. Weil sie einen bestimmten Bann auf mich auszuüben schienen...

Der Junge blinzelte und sah einen Moment zu mir. Unsere Blicke trafen sich und seine Augen weiteten sich überrascht. Er sah mich an und lächelte.
"Thomas Braun", rief der Lehrer auf. Er wandte sich von mir ab und meldete sich. "Hier."
Und ich merkte, dass ich auf einmal ruhig war. Mein Zittern nicht unterdrücken musste, sondern einfach ruhig war. Ich zwang mich meinen Blick woanders zu richten.
Er hieß also Thomas. Und er existierte. Er war es! Der Junge in meinem Traum! Er!
Thomas...
Er existierte wirklich...?

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